Das Urteil im Halle-Prozess
Gemeinsames Statement der Sozialistischen Jugend – die Falken Bremen, Junges Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen und der Jüdischen Hochschulgruppe Biefeleld
Am Montag wurde der Täter, welcher am 9. Oktober 2019 in Halle einen rechtsterroristischen Anschlag verübte, zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Während weite Teile der Presse und Politik das Urteil loben oder aufatmen, sich jetzt endlich nicht mehr mit dem Thema beschäftigen zu müssen, ist das Urteil keinesfalls eine „gute Nachricht“! Die zentrale Neuigkeit ist nicht das Urteil, sondern sind die Punkte, für die der Attentäter nicht verurteilt wurde und die durch den Prozess nicht aufgearbeitet wurden. Oder, um es mit den Worten einer Betroffenen zu sagen, ist das Urteil vor allem „mutlos, harmlos und extrem entpolitisierend“.
Die Angriffe auf Aftax I. und Ismet Tekin waren rassistisch motivierte Mordversuche!
Aftax I. konnte am 9. Oktober 2019 dem Attentäter, der mit einem Auto auf ihn zuraste, gerade noch ausweichen. Während der Attentäter im Prozess selbst gesagt hat, dass er einer weißen Person ausgewichen wäre, beurteilt das Gericht diesen rassistisch motivierten Mordversuch als Verkehrsunfall. Der Gerichtssenat hat sich in diesem Tatkomplex mit den entscheidenden Argumenten offensichtlich nicht auseinandergesetzt. Die Anwältin von AftaxI., Ilil Friedmann, bezeichnet diese Beurteilung als juristisch nicht haltbar. Auch Ismet Tekin, der außerhalb seines Ladens „Kiez Döner“ von dem Attentäter beschossen wurde, dies aber überlebte, da der Attentäter ihn nicht getroffen hat, wurde von dem Urteil ausdrücklich nicht als Opfer gewertet.
Kein Schlussstrich!
In deutscher Manier wurde schon kurz nach der Urteilsverkündung aufgeatmet und in das allseits bekannte Wiedergutmachungs-Narrativ eingestimmt. Die Opferbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalts steht ganz an der Seite des Urteils und verkündet: der (alt-bekannte) Schlussstrich könne nun gezogen werden. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt teilt offiziell mit: Antisemitismus und Rassismus hätten, wie man an dem Urteil ja sehen könne, keinen Platz in Deutschland. Urteil gesprochen, Antisemitismus, Rassismus und Frauen*hass bewältigt: Friede, Freude, Eierkuchen im postnazistischen Deutschland. Wer nur ein bisschen genauer hinschaut, den Überlebenden und Betroffenen nur einen Moment zuhört, dem wird schnell klar: Das Urteil ist bei weitem kein Ende der Aufarbeitung, es ist gerade mal ein Anfang – obendrein kein besonders guter.
Die deutsche Justiz und die zuständigen Ermittlungsbehörden haben versagt!
Durch den Prozess ist eins klar geworden: Die Strafverfolgungsbehörde hat in einem nicht überraschenden – aber dadurch nicht minder skandalösen – Versagen die Chance verpasst, das global agierende Online-Netzwerk des Täters aufzudecken. Vielmehr wurde von der Strafverfolgungsbehörde das Bild eines Einzeltäters gezeichnet. Es ist dem großen Engagement der Nebenkläger*innen zu verdanken, dass im Prozess die gesellschaftlichen Dimensionen des Attentats überhaupt thematisiert wurden. Der Attentäter war kein Einzeltäter, sondern vielmehr Ausdruck eines global agierenden rechtsterroristischen Netzwerks und von wieder erstarkendem Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus in der postnazistischen Gesellschaft.
Dem Täter keine Bühne: Sagt seinen Namen nicht, verbreitet keine Bilder von ihm!
In ihrer bemerkenswerten Rede auf der Pressekonferenz kurz nach der Urteilsverkündung, wandte sich die Nebenklägerin und Überlebende des Attentats Naomi Henkel-Gümbel an die Medien und machte deutlich, wie wütend die Betroffenen auf die Medien sind. Denn diese haben die wiederholte Aufforderung ignoriert, dem Täter keine Bühne zu geben. Noch immer verbreiten Viele sowohl den Namen, als auch Fotos von dem Täter und machen sich damit zu Komplizen der Tat. Denn während des Prozesses ist immer wieder klar geworden: Der Attentäter versuchte den Prozess als Bühne zu nutzen, um Nachahmer zu Ähnlichem zu animieren. Der Attentäter ließ keine Gelegenheit im Prozess ungenutzt, um sich antisemitisch, rassistisch und antifeministisch zu äußern. Zudem leugnete er wiederholt die Shoah. Entgegen der Meinung beispielsweise der Süddeutschen Zeitung, war es nicht Richterin Mertens, die den Attentäter in solchen Momenten in seine Schranken wies. Im Gegenteil waren es die Nebenkläger*innen, also die Überlebenden des Anschlags selbst, und ihre anwaltlichen Vertretungen, die in diesen Momenten vehement eingeschritten sind. Wer wirklich bei dem Prozess anwesend war oder die Prozessberichte der zivilgesellschaftlichen Initiativen mitverfolgt hat, kann bei einer solchen Verunglimpfung der tatsächlichen Zustände im Magdeburger Gerichtssaal nur wütend oder zynisch werden.
Die Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit den Taten des 9. Oktobers 2019 dürfen nicht einschlafen!
„So kann sich hier niemand auf die Schultern klopfen, weder die Behörden, noch die liberale deutsche Gesellschaft, die vielleicht den Interviews und Podcasts mit Betroffenen und Expert:innen lauscht und gerne die Berichterstattung über den Prozess liest, aber dann doch nur daneben steht bei antisemitischen und rassistischen Beleidigungen, Übergriffen und Angriffen. Was es bedarf, ist Zivilcourage statt Selbstgefälligkeit!“, fordert die Überlebende des Anschlags und Nebenklägerin Naomi Henkel-Gümbel.
Es braucht eine konsequente Zivilcourage. Es braucht eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Attentats. Es braucht eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Ursprünge, aus denen diese Tat entstehen konnte. Es geht darum wirklich Verantwortung zu übernehmen und sich mit Antisemitismus, Rassismus und Frauen*hass gesamtgesellschaftlich auseinanderzusetzen. Nicht trotz, sondern erst recht nach diesem Prozess!
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